XPERTENINTERVIEW RATGEBER-AKTION „KOPFSCHMERZ“ am 20.06.2013

„KOPFSCHMERZ MUSS MAN NICHT MEHR HINNEHMEN“

Experteninterview zum Thema Migräne und Kopfschmerzen mit Prof. Dr. med. Hartmut Göbel, Chefarzt der Schmerzklinik Kiel. Facharzt für Neurologie und spezielle Schmerztherapie, Diplom-Psychologe.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Kopfschmerzen und Migräne treten bei vielen Menschen auf. Gleichzeitig werden sie jedoch als Erkrankung nicht ernst genommen. Wie kommt das?

  • Prof. Dr. med. Hartmut Göbel: Kopfschmerzen sind die Volkskrankheit Nr. 1. Mehr als 54 Millionen Menschen in Deutschland leiden darunter. Doch leider hat die Wissenschaft lange Zeit kaum Neues zum Thema entwickelt. Es gab auch keine international gültigen diagnostischen Kriterien. Denn Schmerzen können nicht im Labor erfasst oder im Röntgenbild abgebildet werden. Auch in der ärztlichen Ausbildung haben Kopfschmerzen und Migräne bisher keine bedeutsame Rolle gespielt. Das alles führt dazu, dass Patienten massiv unterversorgt sind. Gleichzeitig wurden jedoch in den letzten Jahrzehnten wesentliche Fortschritte für die Versorgung von Migräne- und Kopfschmerzpatienten erzielt. Heute muss man die Beschwerden nicht einfach hinnehmen, sondern kann sie in vielen Fällen erfolgreich behandeln.

Nach der Ansicht von Experten müssen über 250 verschiedene Kopfschmerzarten unterschieden werden. Was sind die wichtigsten Gruppen und ihre Unterscheidungsmerkmale?

  • Prof. Dr. med. Hartmut Göbel: Zwei wesentliche Hauptgruppen müssen bei jeder Kopfschmerzuntersuchung differenziert werden: die primären Kopfschmerzen und die sekundären Kopfschmerzen. Die sekundären Kopfschmerzen sind das Symptom einer anderen Grunderkrankung, wie beispielsweise Bluthochdruck, ein Schlaganfall oder eine Schädelverletzung. Bei den primären Kopfschmerzen hingegen sind diese Kopfschmerzen die Erkrankung selbst. Sie entstehen in der Regel durch eine Störung im schmerzverarbeitenden System des Gehirns. Die wichtigsten primären Kopfschmerzen schließen die Migräne, den Spannungskopfschmerz und den Clusterkopfschmerz ein.

Die meisten Menschen glauben, ihre Kopfschmerzen mit ein paar Schmerzpillen selbst behandeln zu können. Wann ist stattdessen ein Arztbesuch ratsam?

  • Prof. Dr. med. Hartmut Göbel: Kopfschmerzen können einen sehr hohen Leidensdruck erzeugen. Dies kann so weit führen, dass der Alltag mit Beruf, Kindererziehung und Partnerschaft kaum bewältigt werden kann. Dennoch haben viele Betroffene kein klares Konzept und keine Behandlungsstrategie für ihre Beschwerden. Immer wenn Kopfschmerzen die Lebensqualität und Möglichkeiten im Alltag beeinträchtigen, sollte ein Arztbesuch erfolgen. Eine rasche ärztliche Untersuchung wird vor allem bei plötzlich auftretenden, ggf. noch nie da gewesenen Kopfschmerzen notwendig, da diese gefährlich sein können und Warnsymptome für zum Teil lebensbedrohliche Erkrankungen darstellen.

Welche Möglichkeiten gibt es, eine akute Attacke von Spannungskopfschmerz bzw. Migräne zu behandeln?

  • Prof. Dr. med. Hartmut Göbel: Bei der Akutbehandlung von Migräneattacken ist es wichtig, für Ruhe zu sorgen und sich aus dem Alltagsdruck zurückzuziehen. Bei Erbrechen kann ein Mittel gegen Übelkeit eingesetzt werden. Leichtere Schmerzen werden mit Schmerzmitteln (Aspirin, Ibuprofen, Paracetamol) behandelt. Gegen starke Schmerzattacken werden Triptane – als Tabletten, Nasensprays, Zäpfchen oder als Pen zur Selbstinjektion – eingesetzt. Bei Spannungskopfschmerz müssen episodische oder chronische Verläufe unterschieden werden. Während bei episodischem Spannungskopfschmerz klassische Schmerzmittel ausreichen, sollte bei häufigem Spannungskopfschmerz (10–15 Tage im Monat) eine vorbeugende Behandlung erfolgen. Denn bei der Medikamenteneinnahme muss die sogenannte 10-20-Regel berücksichtigt werden, die besagt, dass lediglich an zehn Tagen pro Monat Akutmedikamente verwendet werden dürfen. Andernfalls drohen durch den Medikamentenübergebrauch erneut Kopfschmerzen.

Gibt es bestimmte Auslöser, die als gesichert gelten?

  • Prof. Dr. med. Hartmut Göbel: Es gibt zahlreiche Auslöser, die bei einzelnen Migräne-Patienten Attacken triggern (auslösen) können. Am häufigsten werden Stress, Unregelmäßigkeiten im Tagesrhythmus, Auslassen von Mahlzeiten sowie generell alles zu Schnelle, zu Plötzliche, zu Impulsive im Alltag als Auslöser genannt. Diese Auslöser können individuell sehr unterschiedlich sein und sollten ggf. vermieden werden, wenn sie sich als solche herausgestellt haben. Bestimmte Nahrungsmittel, die früher sehr häufig als Trigger bezeichnet wurden, sind nur in seltensten Fällen als Auslöser einer Migräneattacke bedeutsam.

Um Lebensqualität zurückzugewinnen, steht für viele Patienten die Vorbeugung im Vordergrund. Welche Medikamente stehen hier zur Auswahl?

  • Prof. Dr. med. Hartmut Göbel: Für die Migränevorbeugung stehen eine Reihe von wirksamen Möglichkeiten zur Auswahl. Diese schließen Betablocker, Calciumantagonisten und verschiedene Antiepileptika ein. Darüber hinaus kann eine Reihe von weiteren Substanzen wirksam sein. Besonders verträglich haben sich Magnesium und Vitamin B2 erwiesen. Eine vorbeugende Behandlung zur Migräneprophylaxe muss individuell eingestellt und langfristig begleitet werden.

Immer öfter ist von ganzheitlichen oder multimodalen Behandlungskonzepten die Rede. Wie sollten diese bei Kopfschmerz und Migräne aussehen?

  • Prof. Dr. med. Hartmut Göbel: Migräne und Kopfschmerzen sind komplexe Erkrankungen. Es spielen dabei biologische Vorgänge, Verhaltensfaktoren sowie psychische Komponenten eine bedeutsame Rolle. Dies betrifft sowohl die Auslösung von Kopfschmerzerkrankungen als auch deren Unterhaltung und Chronifizierung. Multimodale Therapiekonzepte haben sich als sehr wirksame Behandlung von Kopfschmerzen und Migräne erwiesen. Solche Konzepte zeichnen sich durch die gleichzeitige Zusammenarbeit verschiedenster Fachgruppen aus. Diese schließen neben der neurologischen auch die psychologische, sporttherapeutische, physiotherapeutische, verhaltensmedizinische und psychotherapeutische Behandlung mit ein.

Welche Rolle spielen Sport und Ernährung bei der Vorbeugung bzw. Therapie?

  • Prof. Dr. med. Hartmut Göbel: Bei der Vorbeugung von Migräne haben sich sporttherapeutische Verfahren als wirksam bewährt. Dies gilt besonders für Ausdauersport wie z. B. Walking, Jogging, Fahrradfahren oder Schwimmen. Auch die Ernährung ist ein wichtiger Faktor. Hier gilt es zunächst, regelmäßige Mahlzeiten zu berücksichtigen. Das Auslassen des Frühstücks, besonders bei Jugendlichen und Kindern, hat sich als sehr bedeutsamer Migränetrigger erwiesen. Mittagessen und das Abendessen sollten zu festen Zeiten erfolgen. Ausreichendes Trinken von mindestens zwei bis drei Litern am Tag ist ebenfalls empfehlenswert. Da das Nervensystem für seine Arbeit eine kohlenhydratreiche Nahrung benötigt, sollte auf eine entsprechende Ernährungsgestaltung geachtet werden.

Welche Rolle kommt Entspannungstechniken sowie Methoden zum Stressabbau und zur Schmerzbewältigung bei der Behandlung von Migräne und Spannungskopfschmerz zu?

  • Prof. Dr. med. Hartmut Göbel: Methoden zum Stressabbau und zur Schmerzbewältigung helfen den Betroffenen effektiv, im Alltag eine übermäßige Aktivierung des Nervensystems zu vermeiden und damit Migräne und Kopfschmerzen wirksam vorzubeugen. Dabei können Entspannungsverfahren, die leicht erlernt werden, sowohl die Attackenfrequenz als auch die Attackendauer und -intensität sehr effektiv verringern. Eine besondere Form ist das Biofeedback. Dabei können Patienten eine Rückmeldung über die körperliche Aktivität, die Anspannung und möglicherweise die Überaktivität im zentralen und peripheren Nervensystem erhalten und dann aktiv lernen, diese zu reduzieren.
Quelle: deutsche journalisten dienste (djd),
Gesundheitsthemen